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Montag, 29. Juni 2015

Fair

„Frau List, ich möchte gerne einen Augenblick allein am Tatort sein, um mich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen. Wir sollten die Tote zunächst identifizieren, am Besten mit Hilfe ihres Personalausweises, vielleicht ist dort drauf auch ihr Fingerabdruck gespeichert. Haben Sie die Handtasche schon gefunden?“

„Nein, Frau Herzog. Hier in dieser Halle ist sie nicht. Ich könnte die Haushälterin danach fragen.“

Ich nicke Alima zu, sie soll sich ruhig auf den Weg machen. Für einen Moment kann ich mich in aller Ruhe sammeln. Die Stille ist nun perfekt, doch da stört mich schon wieder etwas. Ich spüre, dass jemand in der offenen Eingangstür steht. Entnervt stöhne ich auf, kann ich denn nicht für einen Augenblick allein sein? Ich drehe mich mit finsterem Blick um, in der festen Meinung, den altgedienten Pathologen Herrn Lieblich zu sehen, da erblicke ich in der Tür einen blond gelockten Adonis. Er runzelt wegen meines Blickes eher belustigt die Augenbrauen, wendet seine grünen Augen jedoch nicht ab. Ihr Blick durchbohrt mich mit einer Intensität, wie ich sie nur selten erlebe. Es macht mich unsicher und wenn ich unsicher bin, dann steigt mein Stresslevel enorm an. Ich fahre ihn barsch an: „Wer sind Sie? Ich habe mit Doktor Lieblich gerechnet.“

„Nun, der bin ich augenscheinlich nicht. Sie sind Frau Herzog, habe ich Recht? Ich kenne Sie von früher, da waren Sie jedoch ausgesprochen nett, ganz anders als sie es jetzt sind.“

„Nun, da wissen Sie ja schon einmal, wer ich bin. Wenn ich jetzt wüsste, wer Sie sind, dann könnten wir unseren Job machen.“

Dass er von der Pathologie kommt, nehme ich deswegen an, weil er einen strahlend weißen Kittel über seiner Jeans und dem Shirt trägt. Aber ich weiß auch, dass Kleider manchmal etwas vortäuschen sollen. Also zücke ich meinen Ausweis und halte ihm den vor die Nase. Er schaut nicht drauf, nickt mir nur zu: „Ich sagte doch schon, ich weiß, wer Sie sind.“

„Ja, aber ich weiß immer noch nicht, wer Sie sind.“

Daraufhin nimmt der blonde Lockenkopf seinen Ausweis aus der Tasche und erklärt: „Doktor Lieblich möchte nicht mehr zu Tatorten fahren, bis er Anfang des nächsten Monats in Rente geht. Da ich als sein Nachfolger ja schon da bin, kann ich seinem Wunsch entsprechen. Ich bin Gabriel Xander Witthold.“

Ich schaue auf den Dienstausweis. Es ist alles in bester Ordnung, er scheint nur ein wenig verschnupft wegen meines Misstrauens zu sein. Ich zucke innerlich die Schultern und zeige mit dem Daumen hinter mich, auf die Tote.

Er geht zu ihr und kniet sich neben dem Leichnam nieder. Ich habe einen ungehinderten Blick auf seinen Rücken und bemerke, das sein Kittel über seinem breiten Kreuz bis zum Zerreißen gespannt ist, auch ohne dass er sich nach vorne beugt. Der gute Doktor hält sich fit!

Draußen schiebt sich eine ferne Wolke, unbeobachtete vor die Sonne und der Raum wird mit einem Mal viel dunkler. Innerlich erschauere ich, weil ich mir so große Sorgen um meine Katze mache, und diese Sorgen wie diese Wolke über meinem Gemüt liegt. Ich fühle, dass ich mich kaum auf meine Aufgaben konzentrieren kann. Meine Gedanken schweifen ab und ich frage beiläufig: „Woher kennen Sie mich, von früher?“

„Ich habe Sie kennengelernt, als Sie auf der Hochzeit meiner Schwester ihren Ehering wiedergefunden haben. Sie sind gar nicht so unnahbar, wie Sie sich geben, habe ich Recht?“

Ich lache, es soll abwehrend klingen, doch ich fürchte es ist nur verlegen. Danach herrscht eine angespannte Stille, bis er sagt: „Sie waren nicht immer so zynisch. Sie müssen es jetzt doch auch nicht sein! Es macht Ihnen das Leben nur unnötig schwer! Wenn ich so wie hier vor einer Frau stehe, die ihren Tod gewaltsam gefunden hat, frage ich mich immer, wie sie gewesen war, ob sie tatsächlich verdient hat, was mit ihr geschah. Meist ist das nicht der Fall. Würden Sie wollen, dass Ihnen jemand den Tod wünscht, weil Sie es verdienen?“

Ich erschrecke vor seinen Worten. Ich gebe es nur vor dir, liebe Leserin, lieber Leser, zu, doch er trifft meine schlimmste geheime Befürchtung: dass ich nicht nur äußerlich hässlich bin, sondern mein ganzes Wesen wirklich nicht liebenswert ist!

Ich spüre, dass ich hier an einem ganz wichtigen Punkt in meinem Leben stehe. Jetzt brauche ich wirklich deine Hilfe! Soll ich:

Mich nun öffnen und dem Arzt weiter zuhören, der augenscheinlich weiß, wovon er redet?

Oder soll ich mich umdrehen und meinen Job machen?

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